EGB-Erklärung zum 50. Geburtstag der Römischen Verträge

Brüssel,

Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) begrüßt die Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses, der in den letzten 50 Jahren Frieden und Wohlstand sicherte sowie einen Rahmen für das Zusammenwachsen Europas bildete. Seit den Achtzigerjahren wurden die makroökonomischen, finanziellen und währungspolitischen EU-Grundpfeiler um eine soziale Dimension erweitert, die zur Sicherung der Unterstützung vonseiten der Bevölkerung für die Fortsetzung der Integration unabdingbar ist. Durch Verhandlungen, Dialog und politischen Kompromiss schuf die EU auf friedlichem Wege eine weltweit einzigartige von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt, Zusammenarbeit und Demokratie geprägte Region. Die auf sozialen und ethischen Grundsätzen aufbauende und einem hohen Sozialschutzniveau, hohem Lebensstandard, nachhaltiger Entwicklung, sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle verpflichtete EU ist ein Vorbild für andere Regionen der Welt.

Die europäische Integration hat auch die Gewerkschaften während der letzten 50 Jahre darin bestärkt, über ihre Landesgrenzen hinauszublicken und neue Wege der Zusammenarbeit zu entwickeln sowie die gegenseitige Solidarität zu pflegen. Der im Jahr 1973 gegründete Europäische Gewerkschaftsbund, der für Pluralismus und Diversität eintritt, bildet dafür die Grundlage.

Gewerkschaften wurden in Europa erfunden und es ist kein Zufall, dass es in Europa kürzere Arbeitstage, mehr Urlaub, mehr soziale Verantwortung, bessere Sozialversicherungssysteme, mehr öffentliche Universaldienste und weniger Ungleichheit als in anderen Teilen der Welt gibt. Ein eigenes Kapitel zur Sozialpolitik, die Anerkennung des europäischen sozialen Dialogs (als Koregulierungsverfahren) und eine ehrgeizige erste sozialpolitische Agenda sowie ein umfangreiches Arbeitsprogramm waren große Fortschritte auf dem Weg zu einem sozialeren Europa und für die Entwicklung des europäischen Sozialmodells. Darauf folgten Rechtsvorschriften zu Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, den Arbeitsbedingungen, der Nichtdiskriminierung und Geschlechtergleichstellung, dem Recht auf Unterrichtung und Anhörung sowie der Einrichtung von Europäischen Betriebsräten. Seit den späten Neunzigerjahren ist der Prozess jedoch ins Stocken geraten und die soziale Dimension der EU geriet ins Hintertreffen.

Eine ehrgeizige Agenda ist vonnöten

Der EGB ist über den mangelnden Fortschritt bezüglich der sozialen Dimension des Binnenmarktes, die jüngsten ohne Ehrgeiz formulierten sozialpolitischen Agenden, den Stillstand bei der Umsetzung der Lissaboner Strategie und die ausbleibenden Maßnahmen hinsichtlich der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse enttäuscht.

Europäischer Verfassungsvertrag

Die EU ist ein weites Stück vom Integrationsfahrplan abgekommen. Die jetzt nach der sogenannten Reflektionspause geführte Verfassungsdebatte muss eine Lösung anstreben, die dem sozialen Europa entsprechendes Gewicht verleiht. Der Text des Verfassungsvertrags berücksichtigt weitgehend die Forderungen der Bürger, Arbeitnehmer und Gewerkschaften zur Schaffung eines leistungsfähigeren und sozialeren Europas. In richtungsweisenden Bestimmungen, die das Streik- und Kollektivverhandlungsrecht garantieren, wird der EU-Charta der Grundrechte rechtliches Gewicht verliehen. Die Charta ist noch nicht rechtsverbindlich, deshalb besteht der EGB darauf, dass sie Bestandteil der endgültigen Fassung eines etwaigen Verfassungsvertrags bleiben muss.

Mehr und bessere Arbeitsplätze

Trotz gewisser Fortschritte in letzter Zeit gibt es immer noch keine Antworten auf die großen Herausforderungen wie Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzqualität. Während der letzten 50 Jahre arbeitete die EU an der Realisierung eines europäischen Binnenmarktes für Waren und Dienstleistungen und ist auf gutem Weg auch einen einheitlichen europäischen Arbeitsmarkt zu schaffen. Jetzt muss die gleiche Ausgangslage für die Arbeitnehmer geschaffen werden und zwar durch die einheitliche und gerechte Behandlung in ganz Europa, den Schutz der Rechte ausländischer Arbeitnehmer und von Gewerkschaften für den Abschluss von Tarifverträgen.

Stattdessen sind innerhalb der EU unsichere Arbeitsverhältnisse im Vormarsch. Die derzeitigen Überlegungen bezüglich „Flexicurity“ am Arbeitsmarkt sind nur dann annehmbar, wenn dies durch menschenwürdige Arbeit und angemessene Entlohnung, einen Stopp der Ausbreitung unsicherer Arbeitsverhältnisse, bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie verbesserte Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zu Verbesserungen bei der Arbeitsplatzqualität führt. Auch die Arbeitsplatzsicherheit muss mit neuen Formen der Unterstützung für Arbeitnehmer kombiniert werden, um eine angemessene soziale Absicherung, die Aufrechterhaltung von Ansprüchen, Einkommensunterstützung während der Übergangsphasen und die Förderung von Berufswegen und Qualifikationen, die erforderlich sind, um mit dem schnellen Wandel und der industriellen Umstrukturierung Schritt zu halten, sicherzustellen.
Die EU sollte durch eine Kombination von gesetzlichen und vertraglichen Vereinbarungen Mindeststandards für Arbeitsbedingungen schaffen, die grenzüberschreitend zur Bekämpfung von unlauterem Wettbewerb und Sozialdumping am Arbeitsmarkt beitragen.

EU-Rechtsvorschriften

Die kürzlich vorgelegten Vorschläge zur Sozialgesetzgebung waren mehr deregulierend als sozial und stärken die Position der Wirtschaft auf Kosten des Arbeitnehmerschutzes. Zu den schlimmsten Beispielen zählen das Scheitern der Bemühungen, die Opt-out-Regelung aus der Arbeitszeitrichtlinie zu streichen, und die ursprüngliche - von der Gewerkschaftsbewegung und dem Europäischen Parlament abgelehnte - „Bolkestein-Richtlinie“ über Dienstleistungen im Binnenmarkt, die durch die Anwendung des Herkunftslandprinzips als Hauptantrieb der Marktöffnung weit verbreitetes Sozialdumping heraufbeschwört.

Der EGB begrüßt den wachsenden Einfluss des Europäischen Parlaments in den politischen Entscheidungsprozessen der EU und die von ihm gezeigte Bereitschaft, den Standpunkt der europäischen Bürger als Beitrag zu Stärkung der Demokratie in Europa zu berücksichtigen.

Der EGB fordert bessere EU-Rechtsvorschriften zu Geschlechtergleichstellung, Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung in Unternehmen, den Europäischen Betriebsräten sowie Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Die EU muss dringend den Richtlinienentwurf zur Gewährleistung der Nichtdiskriminierung von Leiharbeitnehmern annehmen und die Europäische Kommission sollte Vorschläge für den arbeitsrechtlichen Schutz hinsichtlich neuer Formen atypischer Beschäftigung vorlegen.

Öffentliche Dienste

Öffentliche Dienste von hoher Qualität sind eine Voraussetzung für das allgemeine Wohlergehen von Bürgern und Arbeitnehmern. Der EGB erwartet deshalb von der Europäischen Kommission, einen gesetzlichen Rahmen zur Unterstützung der Anstrengungen der Mitgliedstaaten für die Sicherung der Qualität der öffentlichen Dienstleistungen für Alle vorzuschlagen.

Zunehmende Ungleichheit

Wir stellen mit Besorgnis fest, dass der Kapitalismus neue Formen annimmt, weg vom traditionellen Pakt zwischen Arbeitgeber und -nehmer und hin zu einem Kasinokapitalismus geprägt von Hedgefonds, Aufkäufe durch privates Beteiligungskapital und schnelle Kapitalrenditen. Diesem Trend muss durch Regelungen begegnet werden, um eine Zunahme bei den Entlassungen, unstetiger Beschäftigung und Outsourcing sowie eine Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich zu verhindern. Die bisherigen Antworten der EU waren nicht zielführend.

Energie und nachhaltige Entwicklung

Der EGB ist der Ansicht, dass Europa zum Schutz der Arbeitsplätze und zur Gewährleistung der Versorgung dringend eine gemeinsame Energiestrategie ausarbeiten muss. Die Entscheidungsträger und die Industrie müssen zur Sicherstellung einer nachhaltigen Entwicklung mehr Verantwortungsbewusstsein entwickeln.
Der Klimawandel steht für die gesamte Menschheit auf der Prioritätenliste ganz oben und der EGB drängt auf Investitionen in grüne Technologien und rigorose Einschränkungen bei den Treibhausgasemissionen. Er ist davon überzeugt, dass der Klimawandel eine Triebfeder für neue Arbeitsplätze und die Förderung des sozialen Zusammenhalts sein kann. Alle Maßnahmen müssen jedoch auf ihre sozialen Auswirkungen hin untersucht werden, um eine gerechte Umsetzung sicherzustellen.

Bekämpfung der Diskriminierung

2007 wurde zum europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle erklärt. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zeigt jedoch, dass viele EU-Bürger nicht über die EU-Gesetzesvorschriften zur Nichtdiskriminierung Bescheid wissen. Es ist noch viel zu tun. Zum Beispiel ist es inakzeptabel, dass 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge, die das Prinzip der gleichen Entlohnung für Frauen und Männer einführten, Frauen EU-weit durchschnittlich immer noch 15 % weniger als Männer verdienen.

Sozialer Dialog

Der EGB hat als europäischer Sozialpartner bei der Politikformulierung in Europa Reife bewiesen und gezeigt, das er durch die autonomen Verhandlungen unter den Sozialpartnern und das Konsultationsverfahren mit der Europäische Kommission einen großen Beitrag zum Erfolg in all diesen Bereichen leisten kann. Die Kommission muss mehr politischen Willen zeigen und von ihrem Initiativrecht im Bereich der Sozialpolitik Gebrauch machen, um die sozialpolitischen Maßnahmen und das europäische Sozialmodell zu stärken.

Zukunftsaussichten

Zu Beginn der nächsten 50 Jahre muss sich die Europäische Union zur Förderung und Stärkung des europäischen Sozialmodells verpflichten. Die europäischen Institutionen müssen zukunftsweisende Pläne zur Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme vorlegen und dabei den Ruf der Öffentlichkeit nach Vollbeschäftigung, nachhaltiger Entwicklung, Sozial- und Verbraucherschutz berücksichtigen sowie eine Antwort auf die Globalisierung finden. Wenn die EU die Unterstützung der Arbeitnehmer und ihrer Familien gewinnen will, muss sie in ihren offiziellen Erklärungen auch die Grundrechte sowie die sozialen und Arbeitsmarktbedingungen stärker betonen. Die EU muss die Grundsätze und Werte des europäischen Sozialmodells auf internationaler Ebene fördern. Eine gerechtere Globalisierung kann nur durch die Aufnahme einer Sozialklausel in alle EU-Handelsvereinbarungen mit anderen Staaten, welche die Einhaltung der grundlegenden Rechte und Prinzipien am Arbeitsplatz sowie der Agenda für menschenwürdige Arbeit für alle fördert, erreicht werden. Der EGB begrüßt die von den Arbeitsministern von neun EU-Mitgliedstaaten unterzeichnete Erklärung „Enhancing Social Europe“ und erwartet, dass sich die restlichen EU-Länder anschließen werden.

Fünfzig Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge ist es wichtiger denn je, zu begreifen, dass die soziale Dimension Europas eine unverzichtbare Investition in die Menschen darstellt, und die Sozialpolitik mit dem Wirtschaftswachstum auf eine Stufe zu stellen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen sich für Menschenwürde, Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit, sozialen Dialog, Sozialschutz und soziale Eingliederung sowie einen angemessenen Lebensstandard für alle einsetzen.

01.03.2007
Discours